Kartoffelschmarrn vom Herrn Expositus

Der erste Unterrichtstag des neuen „Freiln“ in Saulburg begann mit einer Watschn

Von Dorothea Wolf

    Die großen Ferien gehen langsam aber sicher ihrem Ende zu und immer näher rückt für die Abc-Schützen der erste Schultag. Der aber nicht nur für kleine Mädchen und Buben, sondern auch für so manche junge Pädagogen, die ihm sicher mit einem etwas flauen Gefühl im Magen entgegensehen. Jedenfalls erging es mir so vor nun schon 52 Jahren am 7. Mai 1947. Ich wohnte damals mit meiner Mutter - beide waren wir Vertriebene aus Oberschlesien - in Vilshofen, als ich von der Regierung die Mitteilung erhielt, dass ich sofort in Saulburg meinen Dienst als „Hilfslehrerin“ - heute heißen die jungen Kolleginnen und Kollegen viel vornehmer „Referendare“ - aufnehmen sollte.

    Dieser Order nachzukommen war gar nicht so einfach, denn ich sollte mich zuerst noch im Bezirksschulamt in Bogen melden und die Reise dahin ähnelte in diesem Nachkriegsjahr immer noch einer kleinen Weltreise mit Hindernissen: Die Eisenbahnbrücke nach Bogen funktionierte ebenso wenig wie die Donaubrücke von Straubing nach Saulburg. Irgendwie, teils mit der Bahn, teils zu Fuß - in meinem Besitz befand sich zur damaligen Zeit auch nicht der Luxus eines Fahrrades - landete ich schließlich in Bogen. Unterwegs gewesen war ich einen ganzen Tag lang, bis ich am späten Nachmittag das Amtszimmer des mir sehr streng erscheinenden Schulrates im Bogener Landratsamt betrat. Mit sehr amtlicher Miene sagte er mir, dass ich nun vereidigt werden müsste und hoffentlich wüsste, was das für meine Erziehungsarbeit bedeutete. Zu meiner Schande, wusste ich es nicht so genau und wollte darüber Näheres wissen. Doch erschien ihm mein Begehren als vorlaut und da ich ja auf der ganz untersten Stufe der Schulhierarchie stand, musste ich schweigen und sprach ihm nach, was er mir vorsagte.
 


Die erste Klasse im Jahr 1947 mit Lehrerin Dorothea Wolf vor dem Schulhaus. (Foto: dw)

    Die Nacht verbrachte ich im Gasthaus der Staudinger Lina - heute Gasthaus Eckl -, die mir Gott sei Dank verriet, wie ich nach Saulburg weiter könnte. Eine Fahrgelegenheit gab es schon: den mit Holzgas betriebenen Bus des Otto Berger, der mich in der Frühe des 7. Mai, eine Auspuffwolke hinter sich lassend, bis nach Kirchroth beförderte. Da stand ich nun, mit meinem Koffer in der Hand, die Berge des Vorwaldes und die staubige Landstraße vor mir. Es war ein sehr sonniger Tag, was meine Stimmungslage erhöhte. Das allerdings war auch nötig, wusste ich doch nicht, was ich an meinem ersten Schultag alles erleben würde.
 

Der zukünftige Wirkungsort

    Gerade als ich begann am sogenannten Kirchrother Keller die erste Steigung zu nehmen, hörte ich hinter mir jemand ein Fahrrad schieben. Zuerst reagierte ich misstrauisch, als der Besitzer dieser Kostbarkeit mir anbot, meinen Koffer auf dem Gepäckträger zu befördern. Womöglich machte der sich mit meinen Habseligkeiten aus dem Staub! Doch nachdem wir ins Gespräch kamen, er sich als der Herr Remp aus Saulburg mit zwei schulpflichtigen Kindern und ich mich als die neue Lehrerin vorstellte, nahm ich sein Angebot an. Und das erwies sich als sehr richtig, denn es ging immer steiler bergauf und außerdem erfuhr ich vom Herrn Remp interessante Dinge über meinen zukünftigen Wirkungsort. Zum Beispiel, dass es keinen Pfarrer gäbe, dafür aber einen Expositus, den ich übrigens noch am gleichen Tag kennenlernen sollte. Und dass ich sicher im Saulburger Schloss essen könnte, was natürlich für das Jahr 1947, in dem es Lebensmittel immer noch auf Marken gab, sehr wichtig war.

    Dann sah ich das Schulhaus, auf einer Anhöhe über der Ortschaft liegend. Hören konnte ich die Schülerstimmen auch, denn die Fenster des ebenerdigen Klassenzimmers standen offen. Lehrer Georg Bösche, bis dahin Herr über alle acht Klassen, hatte mich schon erwartet und freute sich aus einem ganz besonderen Grund über mein Erscheinen: Zugleich als Organist angestellt, sollte er an diesem Vormittag dem Herrn Expositus bei einer Beerdigung assistieren. Also übergab er einfach mir die rund 50 Kinder der vierten mit achten Jahrgangsstufen, die alle zusammen unterrichtet wurden. „Die Klassen vier und fünf üben Schreiben in Stillarbeit, mit den oberen Klassen fahren Sie ganz einfach im Rechnen - damals gab es nicht die hochtrabende Bezeichnung Mathematik - fort“, sagte er und ging.
 

Eine Watschn für den Ludwig

    Da stand ich nun, die Kinder blickten mich abschätzend an. Ein hochgeschossener Bub aus der letzten Bankreihe erhob sich seelenruhig und ging so, als ob er das öfter machte, durch das geöffnete Fenster. Kein Problem für ihn, denn der Weg drunter lag nur wenig tiefer. Und sofort spazierte er durch die Klassentür wieder herein, brachte damit alle außer mich zum Lachen, sah mich herausfordernd an und marschierte wieder hinaus. An Ruhe und Disziplin war nicht mehr zu denken, als er wiederum durch die Tür erschien. „Ohne mich“, dachte ich und bar jedes pädagogischen Feingefühls verpasste ich ihm eine Watschn. Obwohl er etwas größer war als ich, saß die genau da, wo sie hingehörte. Der Ludwig, so hieß der Bub, schaute verdutzt, das Lachen verstummte, meine erste Schulstunde und mein Ansehen als neues „Schul- freilein“ waren gerettet. Natürlich verteilte ich später keine Watschn mehr, doch diese erste bekomme ich - zur Erinnerung - von meinen „Ehemaligen“ bei unseren Klassentreffen mit Genuss aufgetischt. Der Kollege Bösche löste mich nach seinem kirchlichen Dienst ab. Jedem heutigen Schulamtsdirektor würde es wahrscheinlich grausen bei dem Gedanken, dass einer seiner Lehrer während des Unterrichts das Schulhaus verläßt, um einem anderen Dienst nachzugehen. Damals jedoch war das durchaus üblich.

    Am gleichen Vormittag lernte ich noch den Herrn Expositus Johann Fersch kennen: Mit seiner tiefen Bass-Stimme und seiner Größe eine imponierende Erscheinung. Als er hörte, dass ich im Besitz der „Missio Canonica“ wäre und Religionsunterricht erteilen würde, freute er sich sehr. Wohlwollend lud er mich zum Mittagessen in seine Wohnung im Saulburger Schloss, als Pfarrerdomizil angebaut, ein: „Meine Schwester Theres bereitet heute einen Kartoffelschmarrn zu. Der reicht auch für Sie“, sagte er. Das stimmte, bei dem Gedanken an dieses leckere Gericht als Einstieg in mein Lehrerdasein läuft mir heute noch das Wasser im Mund zusammen. Als Brotzeit für den Nachmittagsunterricht, nun mit meiner eigenen Klasse, Jahrgang eins mit drei, bekam ich von der Theres sogar noch Rohrnudeln, eine Kostbarkeit, die ich , als Städterin gar nicht mehr kannte. Mit beiden, dem Herrn Expositus und seiner Schwester verbanden mich lange Jahre der Freundschaft, zumal ich als eifrige Kirchenchorsängerin die Gottesdienste mitfeierte.
 

Kenntnisse über Hühnerzucht

    Noch aber war mein erster Schultag nicht zu Ende. Mein Kollege Georg Bösche, der wie ich aus Schlesien stammte, weihte mich in die Gegebenheiten eines Stundenplans mit Vormittags- und Nachmittagsunterricht und dem „Feiertagsunterricht“, zu halten am Sonntagvormittag nach der Kirche, ein. Zu meinem Entsetzen erfuhr ich, dass ich für den letzteren Kenntnisse über Hühnerzucht, Milchwirtschaft und ähnliches haben sollte. Eine Schreckensvision, die aber nicht lange währte, da der Feiertagsunterricht abgeschafft wurde.

    Schließlich zeigte mir Herr Bösche, der mir von Anfang an und alle folgenden Jahre in Saulburg als sehr lieber, verständnisvoller Kollege zur Seite stand, meine Wohnung im Schulhaus. Das große und kleine Zimmer erschienen mir als wahrer Luxus. Die Möbel waren ein Bett mit Strohsack, aber mit einem „Plümeau“ und Kopfkissen versehen, und dazu ein Kleiderschrank.

Dorothea Wolf

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